Lernvoraussetzungen
Kapitelübersicht
Definition
Relevanz für die Zielgruppe
Wissenschaftliche Grundlagen
Prinzipien und Maßnahmen
Literatur und Links
Praxisbeispiele
Definition
Auf Grundlage des bio-psycho-sozialen Modells des ICF-CY befasst sich sonderpädagogische Diagnostik im Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation im Kern mit der Frage, welche Barrieren in den Kontextfaktoren (personbezogene Faktoren und Umweltfaktoren) bzw. welche Einschränkungen in den Körperfunktionen und Körperstrukturen Kinder / Jugendliche / junge Erwachsene mit einer Hörbehinderung in ihrer Aktivität und Teilhabe so einschränken, dass sich daraus die Notwendigkeit sonderpädagogischer Maßnahmen ableitet.
Relevanz für die Zielgruppe
Übergeordnete Zielsetzung im Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation ist es, Kindern und Jugendlichen mit einer Hörbehinderung auf der Basis ihrer Lernvoraussetzungen durch adäquate sonderpädagogische Maßnahmen zu ermöglichen, ihre Potenziale zu entfalten und ihre Teilhabe zu erweitern.
Hollenweger (2012) beschreibt in diesem Zusammenhang folgende Merkmale als wesentlich:
Humanisieren
- Kompetenzen erfassen, über die ein Kind bereits verfügt
- Lebenssituationen erfassen, in denen ein Kind kompetent handeln kann
Pädagogisieren
- Die Kompetenzen eines Kindes verstehen
- Problemstellungen explizieren
- Sonderpädagogische Maßnahmen beschreiben, die es konkret braucht, damit ein Kind im schulischen Kontext kompetent handeln und ein erfülltes Leben führen kann
Wissenschaftliche Grundlagen
Die ICF-CY (siehe obige Abbildung) beschreibt die Situation einer Person in unterschiedlichen Kategorien:
- Aktivitäten (z. B. lesen, schreiben, rechnen, sprechen/gebärden)
- Teilhabe (z. B. selbstständig mit Geld am Schulkiosk bezahlen, im Konflikt mit Anderen eigene Gefühle angemessen kommunizieren, chatten mit der Peergroup, DVDs mit Untertitelung anschauen)
- Körperfunktionen (z. B. Sinnesfunktionen wie Hören und Sehen, mentale Funktionen (Kurz- und Langzeitgedächtnis), Wahrnehmungsverarbeitung sowie kristalline Fähigkeiten (z. B. lexikalisches und grammatisches Wissen) und fluide Fähigkeiten (z. B. Schlussfolgerndes Denken, Handlungsplanung), Stimm- und Sprechfunktionen und Körperstrukturen (z. B. anatomische Strukturen des Ohres)
- Gesundheitszustand (Diagnosen nach ICD-10 oder DSM 5) (z. B. Krankheiten wie Diabetes oder psychische Störungen wie eine Depression)
Sämtliche Ebenen stehen unter dem Einfluss von Kontextfaktoren. Kontextfaktoren lassen sich untergliedern in personbezogene Faktoren (Selbstwirksamkeitserwartungen, Motivation, Selbstvertrauen, Interesse, Attribuierung) und Umweltfaktoren (Unterstützung und Beziehungen, Einstellungen, Lernumgebung, technische Hilfsmittel), die sich hemmend oder förderlich auf die Kompetenzentwicklung im Bereich von Aktivität und Teilhabe auswirken können.
Prinzipien und Maßnahmen
Im Folgenden finden Sie zentrale, für einen diagnostischen Prozess relevante Maßnahmen. Im Wiki Webbasierten Sonderpädagogische Diagnostik (WSD) (www.wsd-bw.de) , einem wissenschaftsbasierten Instrument zur Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung in der Sonderpädagogik, werden diese Maßnahmen anhand konkreter Praxisbeispiele aus den Bereichen Kommunikation, Lesen und Schreiben, Mathematik und Verhalten veranschaulicht (vgl. Stecher & Rauner 2019):
Formulierung einer diagnostischen Fragestellung
Im ersten Schritt wird kooperativ mit den am Förder- und Bildungsprozess Beteiligten geklärt, welche diagnostische Fragestellung aktuell am relevantesten zu sein scheint. Diese lautet z. B. „Woran könnte es liegen, dass Melisa Schwierigkeiten in der Kommunikation hat? Welche sonderpädagogischen Maßnahmen unterstützen ihren Kompetenzerwerb in diesem Bereich?“
Die diagnostische Fragestellung beinhaltet die Klärung des diagnostisch relevanten Sachverhalts (hier die Kommunikation) und strukturiert die weitere diagnostische Vorgehensweise (vgl. Trost 2008, 2017). Sicherlich gibt es bei Kindern und Jugendlichen manchmal unterschiedliche Fragestellungen, die bearbeitet werden könnten.
Sonderpädagogische diagnostische Fragestellungen bestehen grundsätzlich aus zwei Teilfragen: Die erste Teilfrage „Woran könnte es liegen, dass...?“ ist der Ausgangspunkt für den „Verstehensprozess“ im Rahmen der Hypothesenbildung (siehe Hypothesenbildung). Einerseits geht es darum, Kompetenzen zu erfassen, über die ein Kind oder Jugendlicher bereits verfügt, andererseits darum, mögliche Ursachen für Schwierigkeiten zu identifizieren, um daran anknüpfend passende Ziele und Maßnahmen ableiten zu können.
Hierauf verweist die zweite Teilfrage „Welche sonderpädagogischen Maßnahmen...?“
Fragestellungsanalyse
Anknüpfend an die Formulierung einer diagnostischen Fragestellung geht es im Rahmen einer Fragestellungsanalyse darum, im Spiegel der ICF-CY ein theoretisches Verständnis der diagnostischen Fragestellung zu gewinnen - zunächst noch unabhängig vom konkreten Kind oder Jugendlichen (vgl. Trost 2008, 2017).
Der Blick richtet sich dabei auf den idealtypischen Ablauf (z. B. der Kommunikation). Die kleinschrittige Analyse dieses idealtypischen Ablaufs bildet gewissermaßen eine Art Folie, vor deren Hintergrund das konkrete Handeln des Kindes oder Jugendlichen in einem nächsten Schritt analysiert werden kann. Zunächst muss die Person, die die Diagnostik durchführt, verstehen, wie z. B. Kommunikation „funktioniert“.
Erhebung diagnostischer Daten
Zur Erhebung diagnostischer Daten werden in Abhängigkeit der zu bearbeitenden diagnostischen Fragestellung sowie der Zugangsfertigkeiten des einzelnen Kindes oder Jugendlichen diagnostische Methoden ausgewählt (z. B. Beobachtung, standardisierte bzw. informelle Verfahren, Gespräche, ...). Die Erhebung diagnostischer Daten erfolgt in unterschiedlichen Alltagssituationen und unter Einbezug unterschiedlicher Perspektiven (Kind/Jugendliche, Erziehungsberechtigte, Sonderpädagog*in und ggf. weitere am Prozess beteiligte Personen). Die Ordnung der erhobenen diagnostischen Daten erfolgt auf Grundlage des bio-psycho-sozialen Modells der ICF-CY.
Hypothesenbildung
Im Anschluss an die Erhebung der diagnostischen Daten erfolgt die Hypothesenbildung (vgl. Trost 2008, 2017). Sie ist das Bindeglied zwischen Diagnostik und Didaktik. Hypothesen sind präzisierte Vermutungen, die beschreiben, woran es liegen könnte, dass Schwierigkeiten, z. B. in der Kommunikation bestehen. Die Hypothesenbildung verläuft theoriegeleitet, d. h. unter bestmöglicher Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse bzgl. möglicher Zusammenhänge der im Spiegel der ICF-CY erhobenen diagnostischen Daten.
Bei den Hypothesen handelt es sich um so genannte Zusammenhangshypothesen, da sie einzelne diagnostische Kategorien (auf Grundlage der ICF-CY) theoriegeleitet miteinander in Beziehung setzen. Folgende Fragen sind hierbei handlungsleitend:
- Mit welchen Körperfunktionen und ggf. Körperstrukturen könnten die diagnostischen Daten im Bereich Aktivität und Teilhabe in Zusammenhang stehen?
- Mit welchen Diagnosen nach ICD-10/DSM 5 könnten die diagnostischen Daten im Bereich Aktivität und Teilhabe in Zusammenhang stehen?
- Mit welchen Kontextfaktoren (personbezogene Faktoren und Umweltfaktoren) könnten die diagnostischen Daten im Bereich Aktivität und Teilhabe in Zusammenhang stehen?
- Welche Zusammenhänge bestehen zwischen einzelnen Aktivitätsbereichen?
Ableitung von Zielen und Maßnahmen
Im Anschluss an die Hypothesenbildung („Woran könnte es liegen, dass...?“) werden in einer kooperativen Planung von Maßnahmen gemeinsam Ziele und passende Maßnahmen abgeleitet. Die Planung dieser Maßnahmen erfolgt unter bestmöglicher Berücksichtigung wissenschaftlicher Erkenntnisse bezüglich deren Wirksamkeit.
Umsetzung von Maßnahmen
Im Anschluss an die kooperative Planung von Maßnahmen erfolgt die gemeinsam verantwortete Umsetzung von Zielen und Maßnahmen. Hierbei werden sowohl unterrichtliche als auch außerunterrichtliche Handlungs- und Erprobungsfelder berücksichtigt.
Überprüfung der Wirksamkeit von Maßnahmen
Folgende Fragestellungen sind hierfür relevant:
- Wurden die vereinbarten Ziele erreicht?
- Waren die Maßnahmen zielführend? An welchen Anhaltspunkten wird dies festgemacht?
- Über welche Kompetenzen verfügt das Kind oder die bzw. der Jugendliche nun?
- Haben sich die Hypothesen als bedeutsam erwiesen? Gibt es neue Hypothesen?
- Welches sind daran anknüpfend nächste Ziele und Maßnahmen?
In der folgenden Übersicht finden Sie zusammengefasst die zentralen Maßnahmen, die in einem diagnostischen Prozess handlungsleitend sind.
Literatur und Links
Hollenweger J (2012) Partizipative Erkundungen, Diagnostik als Voraussetzung für Bildungsprozesse. Vortrag auf dem Fachtag „Diagnostik in der Sonderpädagogik“
Rauner R & Stecher M (2019) Webbasierte sonderpädagogische Diagnostik. In: Hörgeschädigtenpädagogik 3/2019. Median, Heidelberg
Renner G & Mickley M (2015) Intelligenzdiagnostik im Vorschulalter. CHC- theoretisch fundierte Untersuchungsplanung und Cross-battery-assessment. Frühförderung interdisziplinär, 34, 67 – 82
Schlippe A von (2003) Grundlagen systemischer Beratung. In Zander B & Knorr M (Hrsg.), Systemische Arbeit in der Erziehungsberatung. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
Stecher M & Rauner R (2019) Unterrichtsqualität im Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation. Median; Heidelberg
Trost R (2017) „Man sieht nur, was man weiß.“ Diagnostik in inklusiven und sonderpädagogischen Arbeitsfeldern. In: Lindmeier C & Weiß H (Hrsg.): Pädagogische Professionalität im Spannungsfeld von sonderpädagogischer Förderung und inklusiver Bildung, Sonderpädagogische Förderung heute, 1. Beiheft. Beltz, Weinheim
Trost R (2008) Bedingungsanalytische Diagnostik - ein Vorschlag zur Überwindung alter Gräben. In: Hiller G & Trost R et al (Hrsg.): Der diagnostische Blick. C&S Verlag, Laupheim. 165 – 192
World Health Organisation (2011) ICF-CY. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen. Verlag Hans Huber, Bern