Besondere Lernbedarfe tauber und schwerhöriger Kinder und Jugendlicher
Die neurowissenschaftlich fundierten Grundlagen des Lernens verweisen auf die zentrale Bedeutung emotionaler Sicherheit, sozialer Eingebundenheit und individueller Passung für gelingende Bildungsprozesse (Roth, 2009; Hüther, 2011). Diese Erkenntnisse müssen für taube und schwerhörige Kinder und Jugendliche jedoch spezifisch kontextualisiert werden, da ihre Lernbiografien mit besonderen Herausforderungen und Bedingungen verbunden sind, nicht zuletzt, da sich in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit Hörbehinderungen immer die Frage nach der sprachlichen Modalität bezogen auf die Laut- und/ oder Gebärdensprache stellt.
Sprache als zentrales Medium des Lernens
Sprache ist das tragende Fundament schulischer Bildungsprozesse. Für taube und schwerhörige Kinder bedeutet dies, dass der Zugang zu Bildung entscheidend davon abhängt, ob sie über barrierefreie sprachliche Zugänge verfügen. Unabhängig vom Hörstatus und der apparativen Versorgung mit Hörhilfen sind daher immer beide Sprachmodalitäten in Betracht zu ziehen, was ebenso hinsichtlich des Erstspracherwerbs gilt (Grote, 2016; Schulentwicklung NRW, 2024).
Schulische Lernprozesse sind stets sprachlich codiert und vor allem in inklusiven Settings vielfach auf die Lautsprache ausgerichtet. Dies kann insbesondere gebärdensprachlich kommunizierende Lernende vor erhebliche Hürden stellen (Ebeskotte et al., 2025).
Für viele Lernende mit einer Hörbehinderung nimmt Sprache eine doppelte Rolle ein: Sie ist sowohl zentrales Medium der Bildungsprozesse als auch gleichzeitig Gegenstand der Förderung. Diese Doppelrolle stellt schulische Bildung vor die besondere Herausforderung, Lernangebote so zu gestalten, dass sie gleichsam Lernen über Sprache ermöglichen, sprachliche Teilhabe eröffnen und dabei individuelle sprachliche Entwicklungsbedarfe berücksichtigen und ausbauen.
Visuell-räumliche Lernstrukturen und modalitätssensible Didaktik
Im Kontext kommunikationsheterogener Lerngruppen müssen neben der Lautsprache auch die besonderen Bedarfe der gebärdensprachlich kommunizierenden Lernenden berücksichtigt werden. Wie eben skizziert, orientieren sich unterrichtsdidaktische und methodische Fragestellungen häufig an lautsprachlichen Begebenheiten. Dies betrifft vor allem auch die Ausrichtung der Medien und wird darüber hinaus oftmals auch in architektonischen Entscheidungen sichtbar (Becker, 2012).
Die Gebärdensprache ist eine visuell-gestisch strukturierte Sprache. Ihre Modalität beeinflusst kognitive und semantische Strukturierungsprozesse (Grote, 2016). Dies wirkt sich auch auf Lernstrategien und Begriffsbildung aus: Während lautsprachlich kommunizierende Kinder oft sequenziell und linear strukturieren, erfolgt Lernen bei gebärdensprachlich kommunizierenden Kindern häufig simultan und visuell-räumlich (Grote, 2016). Lernumgebungen müssen diesem Unterschied gerecht werden, z. B. durch die Nutzung visueller Medien und entsprechender Lernmethoden.
Identität, Teilhabe und Bildungsgerechtigkeit
Kinder mit Hörbehinderung sind nicht nur durch ihre sensorische Wahrnehmung charakterisiert, sondern bewegen sich auch in kulturellen Spannungsfeldern: zwischen der lautsprachlich kommunizierenden Mehrheitsgesellschaft und der Gebärdensprachgemeinschaft, zwischen Normalisierung (z. B. durch CI-Versorgung) und Anerkennung sprachlich-kultureller Differenz (Nußbeck et al., 2001).
Identitätsentwicklung wird hier zum Bildungsauftrag. Schulen müssen geschützte Räume schaffen, in denen Kinder sich mit ihrer Hörbiografie auseinandersetzen und Zugehörigkeit erfahren dürfen, ohne defizitorientierte Zuschreibungen. Dies erfordert nicht nur Sensibilisierung des Kollegiums, sondern auch ein inklusives Curriculum, das sprachliches und kulturelles Bewusstsein schafft sowie Empowerment in den Unterricht integriert (Kultusministerkonferenz, 2021; Schulentwicklung NRW, 2024).
Neue Herausforderungen im 21. Jahrhundert
Im Zeitalter der Digitalisierung stehen taube und schwerhörige Kinder und Jugendliche vor besonderen Herausforderungen: Digitale Lehrangebote sind beispielsweise etwa dann nicht barrierefrei, wenn – wie häufig – Gebärdensprachunterstützung oder Untertitelung fehlen, die Audioqualität z. B. aufgrund von Hintergrundmusik gestört wird.
Gleichwohl bieten diese Medien aber eine große Chance für visuelle Kommunikation – vorausgesetzt, sie werden inklusiv gestaltet und eingesetzt.
Auch die zunehmende Bedeutung sozialer Netzwerke wirft Fragen nach sprachlicher Partizipation und digitaler Selbstrepräsentation auf und es ist auch hier nicht zu unterschätzen, dass die vielfältigen, sich eröffnenden Möglichkeiten auch zahlreichen Gefahren gegenüberstehen. Insbesondere dann, wenn sich Kinder und Jugendliche aufgrund unzureichender vor allem auch sprachlicher Kompetenzen in sozialen Netzwerken bewegen, können sie leicht Opfer von missbräuchlichen Situationen wie zum Beispiel sexualisierter Gewalt im Netz werden (Urbann et al., 2025).
Fazit
Die besonderen Lernbedarfe tauber und schwerhöriger Kinder und Jugendlicher lassen sich nur dann angemessen berücksichtigen, wenn Lernumgebungen nicht nur emotional sicher, sondern auch modalitätssensibel, sprachlich-barrierefrei und identitätsstiftend gestaltet sind. Die Literatur aus dem Fachgebiet Hörbehinderung bietet hierfür Konzepte und konkrete Umsetzungshilfen, die in der Schulentwicklung systematisch aufgegriffen werden können (Knoors & Marschark, 2018; Hintermair et al., 2021; Brandt & Szarkowski, 2022; Hintermair et al., 2025).
- Quellenangaben