Lerngrundlagen aus neurowissenschaftlicher Sicht
Wer verstehen möchte, wie Lehren funktionieren kann, muss sich zunächst mit dem Lernen selbst befassen, d. h. mit seinem neurobiologischen Fundament ebenso wie den Bedingungen, unter denen es gelingt. Nur durch die Kenntnis, welche Voraussetzungen Lernprozesse begünstigen oder behindern, kann Unterricht gezielt darauf ausgerichtet werden. Ein lernförderliches Unterrichtsdesign trägt wesentlich dazu bei, dass Lernen nicht nur nachhaltiger, sondern auch mit mehr Freude erfolgt (Spitzer, 2006; Schneider, 2009).
Im Folgenden werden zentrale Aspekte der Lernphysiologie dargestellt, um neurobiologische Grundlagen verständlich zu machen und daraus Konsequenzen für schulisches Lernen abzuleiten. Die hier vorgestellten Erkenntnisse sollen in knapper Form veranschaulichen, welche neurobiologischen Grundlagen für schulisches Lernen besonders bedeutsam sind. Eine vertiefende Auseinandersetzung findet sich in der einschlägigen Fachliteratur (u. a. Spitzer, 2006; Roth, 2009; Hüther, 2006; Hüther, 2011).
Lernen ist ein kontinuierlicher, hochkomplexer Vorgang im Gehirn, der nicht ausschließlich bewusst – etwa im schulischen Kontext – stattfindet. Vielmehr erfolgt Lernen ständig, durch die fortwährende Veränderung von Synapsen, also der Verbindungen zwischen Nervenzellen (Roth, 2009). Diese sogenannte synaptische Plastizität bildet die Grundlage dafür, dass neue Inhalte, Fähigkeiten und Verhaltensweisen erlernt werden können. Lernprozesse entfalten sich in dem Zusammenhang besonders wirkungsvoll, wenn sie mit positiven emotionalen Erfahrungen und sozialen Beziehungen verknüpft sind (Hüther, 2011).
Lernen verläuft dabei stets individuell und nur bedingt von außen steuerbar. Jeder Lernende bewertet Situationen auf Basis eigener Erfahrungen, Interessen und Bedürfnisse. So kann das intendierte Lernziel der Lehrperson vom tatsächlichen Lernergebnis der Lernenden abweichen (Schneider, 2009).
Über den individuellen Zugang hinaus ist der soziale Kontext, in dem sich die bzw. der Lernende aufhält, von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Denn Lernen geschieht vor allem im Rahmen vertrauensvoller Beziehungen. Zuwendung, Empathie und ein echtes Interesse an der Entwicklung des Gegenübers schaffen die Voraussetzung dafür, dass Lernende sich öffnen und in Resonanz mit ihrer Umgebung treten (Hüther, 2011). Diese relationalen Bedingungen verweisen auf die grundlegende Bedeutung von Zugehörigkeit und Bindung. Nur wenn Kinder sich als Teil einer wertschätzenden Gemeinschaft erleben, sind sie bereit, sich auf neue Inhalte einzulassen und eigene Lernwege zu erproben (Baumeister & Leary, 1995; Hüther, 2018).
Bildung ist in diesem Verständnis daher nicht nur ein individueller, sondern immer auch ein sozialer Prozess, der getragen wird von emotionaler Sicherheit und dem Gefühl, gesehen und angenommen zu werden.
Ein wesentlicher Motor des Lernens ist die intrinsische Motivation, also der innere Antrieb, Neues zu entdecken und eigene Erfahrungen zu machen. Neugier, Entdeckerfreude und das Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit prägen den Lernweg maßgeblich (Deci & Ryan, 2013). Eine vertrauensvolle Lernumgebung, ebenso ein Klima der Wertschätzung, in dem Fehler erlaubt sind und individuelle Entwicklung gefördert wird, sind grundlegend für erfolgreiches Lernen (Hüther, 2006). Ohne dieses können sich vorhandene Potenziale kaum entfalten und langfristiges Lernen nur schwer gelingen (Hüther, 2011; Fischer, 2022).
Im schulischen Kontext bedeutet dies, dass Lernumgebungen geschaffen werden müssen, die angstfrei, offen und anregend sind. Lernende benötigen Raum, um individuelle Lernwege zu gehen, eigene Interessen zu verfolgen und persönliche Erfahrungen zu machen. Nur so können Gelingenserfahrungen gesammelt und folglich Motivation, Lernfreude und nachhaltiges Wissen aufgebaut werden. Daraus ergibt sich für Hüther (2011) die Forderung nach einer „Schule als Ermöglichungsraum“ (S. 65), in dem Kinder Selbstwirksamkeit erfahren und ihre Potenziale entfalten dürfen, statt primär auf Anpassung und Leistung reduziert zu werden. Schulen sollten daher nicht nur als Orte der Instruktion, sondern als Erfahrungsräume verstanden werden, in denen soziale Eingebundenheit und emotionales Wohlbefinden und Lernen ermöglicht wird (Trautmann & Wischer, 2021). In einem solchen Umfeld erwerben Kinder nicht nur Wissen, sondern auch Vertrauen in sich selbst und andere – zentrale Voraussetzungen für nachhaltiges Lernen.
Damit rückt die Bedeutung individualisierten Lernens in den Fokus. Erfolgreiches schulisches Lernen erfordert eine Abkehr von Gleichzeitigkeit und Gleichförmigkeit hin zu einer stärkeren Berücksichtigung individueller Lernvoraussetzungen, von Talenten und Interessen. Dieser Gedanke ist nicht neu: Bereits im frühen 19. Jahrhundert entwickelte der englische Pädagoge Joseph Lancaster ein Unterrichtsmodell, das auf Selbststeuerung, Peer-Learning und individuellem Lerntempo beruhte, also einem Ansatz, der in bemerkenswerter Weise mit heutigen Erkenntnissen aus der Neurobiologie und Motivationsforschung übereinstimmt (Dockterman, 2018; Hüther, 2018). Denn nachhaltiges Lernen gelingt nur, wenn Kinder Verantwortung für ihren Lernprozess übernehmen dürfen und erleben, dass ihre Handlungen Wirkung zeigen. Diese Erfahrung von Selbstwirksamkeit ist nicht nur lernförderlich, sondern stärkt auch das Vertrauen in die eigene Gestaltungsfähigkeit – ein zentrales Ziel ganzheitlicher Bildung.
Diese neurowissenschaftlich und pädagogisch fundierten Erkenntnisse machen deutlich, dass Lernen ein individueller, emotional eingebetteter und sozial vermittelter Prozess ist, der nicht durch vereinheitlichte Lehrangebote zu steuern ist. Vielmehr erfordert gelingendes schulisches Lernen eine differenzierte, lernförderliche Gestaltung von Lernumgebungen, die den unterschiedlichen Bedürfnissen, Potenzialen und Voraussetzungen von Lernenden Rechnung trägt. Dieses gilt konsequenterweise auch für Lernende mit Hörbehinderung. Welche Ableitungen sich hieraus für den Unterricht ergeben, soll hier dargestellt werden.
- Quellenangaben