Ich-Entwicklung

Voraussetzung für den Aufbau einer eigenen Persönlichkeit und damit eines eigenen Ichs ist die Entwicklung eines Bewusstseins von sich selbst (vgl. Berger 2023, Lohaus & Vierhaus 2018). Die Vorstellung von sich selbst und die Einschätzungen über die eigene Person sind maßgeblich für das eigene Selbstwertgefühl und damit auch für das eigene Selbstkonzept verantwortlich.

Entscheidend für die Entwicklung sind zum einen Beziehungs-, Bindungs- und Umwelterfahrungen, zum anderen – wie der Name mit Blick auf das Selbstbewusstsein schon andeutet – aber auch die Wahrnehmung des eigenen Körpers (das sich bewusst werden), körperliche Erfahrungen sowie Körper- und Haltungskontrolle.

Grundsätzlich unterliegt die individuelle Entwicklung variablen und adaptiven Prozessen und ist abhängig der individuellen Genetik, den subjektiven Beziehungs- und Umwelterfahrungen sowie den Gedanken und Erfahrungen des eigenen sozialen, emotionalen und explorativen Lernens. Dennoch lassen sich typische Grenzsteine in der Entwicklung ausmachen, die hier näher dargelegt werden (vgl. Berger 2023).

 

Entwicklungstabelle

0 bis 6 Monate

Das Kind …

  • entwickelt ein Gefühl von sich selbst, aufgrund der Wahrnehmung des eigenen Körpers.
  • macht erste Erfahrungen, dass es mit seinem Verhalten das Verhalten seiner Bindungspersonen beeinflussen kann (z.B. erhält Nahrung aufgrund von schreien).
  • wendet seine Aufmerksamkeit den Aktivitäten zu, die in seiner unmittelbaren Umgebung deutlich wahrnehmbar sind.
  • verschafft sich – auf dem Arm genommen – einen Überblick über seine Umgebung.

 

6 bis 9 Monate

Das Kind …

  • kann zwischen dem eigenen und fremden Gesichtern unterscheiden.
  • zeigt individuelle Eigenheiten (z.B. sehr ruhig oder lebhaft; gutes oder schlechtes Schlafverhalten etc.).
  • mag es, wenn es Kontakt zu anderen hat (Teilhaben am Familienleben, Spielgruppen etc.).
  • realisiert, dass es geliebt wird.

 

9 bis 12 Monate

Das Kind …

  • betrachtet sich gerne im Spiegel, erkennt sich aber noch nicht.
  • hat gelernt, dass es mit seinem Verhalten das Verhalten seiner Bindungspersonen beeinflussen kann.
  • fordert durch triangulierendes Zeigen bzw. Blickkontakt andere zu gemeinsamen Aktivitäten (z.B. zum gemeinsamen Spiel) auf.
  • versucht, durch Charme oder Widerstand, bestimmte Wünsche oder andere Interessen durchzusetzen.
  • realisiert, dass es verstanden und akzeptiert wird.
  • realisiert, dass eigene Aktivitäten wahrgenommen werden.
  • realisiert, dass eigene Aktivitäten Freude auslösen können.

 

12 bis 18 Monate (1 bis 1,5 Jahre)

Das Kind …

  • erkennt sich im Spiegel.
  • kann seinen eigenen Willen zum Ausdruck bringen, z.B. mit „ja“ oder „nein“ oder entsprechend Gestik und Mimik.
  • nimmt seine Umgebung aufgrund der eigenen Fortbewegung bewusster wahr.
  • erlebt sich zunehmend als Subjekt der eigenen Aktivitäten.
  • fängt an, Beziehungen aufzubauen.

 

18 bis 24 Monate (1,5 bis 2 Jahre)

Das Kind …

  • weiß, bei einem Blick in den Spiegel, dass es einen Unterschied zwischen sich und dem Spiegelbild gibt (Rougetest).
  • probiert gerne selber aus.
  • lehnt Hilfen zuweilen ab, obwohl es die beabsichtigte Tätigkeit noch nicht selbst ausführen kann.

 

24 bis 36 Monate (2 bis 3 Jahre)

Das Kind …

  • nennt sich selbst mit dem Namen.
  • redet von sich selbst mit „ich“.

 

36 bis 48 Monate (3 bis 4 Jahre)

Das Kind …

  • erkennt sich selbst auf Fotos, Videos oder anderen Abbildungen (Aufbau eines autobiografischen Gedächtnisses).
  • differenziert zwischen sich und anderen (Theory of-Mind).
  • weiß, ob es ein Junge oder Mädchen ist.
  • hat noch keine geschlechtsspezifisches Rollenverhalten entwickelt (z.B. im Rollenspiel).
  • verwendet weitere Personalpronomen sicher.

 

48 bis 60 Monate (4 bis 5 Jahren)

Das Kind …

  • unterscheidet zwischen Fremd-Soll-Selbst (die subjektiven Erwartungen anderer an die eigene Person) und seine Diskrepanz zum Real-Selbst (die subjektive Einschätzung der eigenen Person).
  • erzählt gerne von sich.
  • erzählt von seinen Fähigkeiten.
  • begründet und verteidigt seine eigene Meinung.
  • nimmt gerne Telefonanrufe entgegen.
  • entwickelt Selbstbewusstsein.

 

60 bis 72 Monaten (5 bis 6 Jahren)

Das Kind …

  • entwickelt eigene Interessen und Vorlieben aus.
  • sucht Anerkennung und Akzeptanz von Gleichaltrigen.
  • will einer Peergroup angehören – baut einen Freundkreis auf.
  • ist stolz auf seine Fähigkeiten und teilt diese mit.

 

(Grund-)Schulalter

Das Kind …

  • weitet sein soziales Umfeld weiter auf die Gruppe Gleichaltriger aus.
  • zieht sein selbstbezogenes Wissen vermehrt aus sozialen Vergleichen mit Gleichaltrigen (komparative Prädikatenselbstzuweisung). Leistungsbezogene Vergleiche treten in den Vordergrund.
  • bewertet eigene Leistungen im Zusammenhang bzw. Abhängigkeit zu den Leistungen einer sozialen Bezugsgruppe.
  • beginnt, sich an weiteren Bezugspersonen außerhalb des familiären Umfeldes (z.B. seinen Lehrpersonen) zu orientieren. Es zieht in Interaktionserfahrungen mit diesen Personen Rückschlüsse auf eigene Merkmale (indirekte Prädikatenselbstzuweisung). Folglich nähert sich die Selbsteinschätzung zunehmend der Fremdeinschätzung dieser Personen an.
  • ist zunehmend dazu in der Lage, positive und negative Aspekte in das eigene Selbstkonzept zu integrieren (Das kann ich – das kann ich nicht gut …) und folglich ein realistisches Selbstbild herauszubilden.
    Negative Erfahrungen haben somit weniger Auswirkungen mehr auf den globale Selbstwert (ein „Alles-oder-Nichts-Denken“ wird weitgehend aufgegeben)

 

(Jugendalter)

Die bzw. der Jugendliche …

  • richtet ein hohes Maß an Aufmerksamkeit auf sich selbst.
  • ist selbstreflexiv.
  • begibt sich auf die Suche nach Aspekten, die sie bzw. ihn als unverwechselbares Individuum charakterisieren.
  • bezieht bei der Interpretation aktueller Selbstbeobachtungen Informationen aus ihrer eigenen Biografie mit ein, wodurch sie zu einer neuen Quelle selbstbezogenen Wissens kommen
    (ideationale Prädikatenselbstzuweisung: Neues Wissen über die eigene Person wird durch die Reflexion vergangener Erfahrungen und deren Einfluss auf aktuelle Erfahrungen gewonnen).
  • bildet ein Persönlichkeitskonzept heraus, welches sich aus vergangenen, gegenwärtigen und antizipierten zukünftigen Erfahrungen speist.
  • beschreibt sich selbst an Hand von Persönlichkeitseigenschaften und erklären ihre Handlungen auf dieser Grundlage.
  • übernimmt soziale Rollen.
  • kann Widersprüche (Ambiguitäten) im eigenen Verhalten zeigen und zulassen. Sie bzw. er agiert je nach sozialer Gruppe und sozialem Kontext.
  • ist auf der Suche nach dem „Wahren-Ich“.
  • fokussiert sich zunehmend auf seine körperliche Entwicklung (Körperselbstkonzept: sportliche Kompetenz, physische Attraktivität, Fitness, Kraft etc.). Insgesamt bewerten sich Jungen in ihrem Körperselbstkonzept häufig besser als Mädchen. Schönheitsideale werden entwickelt
  • entwickelt Schönheitsideale.
  • löst sich zunehmend vom Elternhaus ab. Erfahrungsräume werden selbst gewählt.
    Die Aufrechterhaltung der Verbundenheit mit den Eltern gilt jedoch als eines der wichtigsten Prädiktoren für zukünftige psychische Gesundheit. Eine Balance zwischen Autonomie und Individuation auf der einen Seite und Verbundenheit und Identifikation auf der anderen Seite ist unterstützenswert,

 

Berger R (2023) Grenzsteine der Entwicklung. Entwicklungsbeobachtung und -einschätzung von Kindern im Alter von 0-6 Jahren. Herder, Freiburg

Lohaus A & Vierhaus M (2018) Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters. Springer, Berlin