Mathematik

Auf der folgenden Seite finden Sie eine Zusammenstellung von Anregungen, die Ihnen helfen können, wenn Sie fachfremd das Fach Mathematik bei Schüler*innen mit einer Hörbehinderung unterrichten.

Mathematiklernen im Förderschwerpunkt Hören und Kommunikation

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Sprache spielt für den Erwerb mathematischer Basiskompetenzen eine entscheidende Rolle (z.B. Schröder & Ritterfeld 2014). Dies wird über Studien bei Kindern mit Hörbehinderung noch einmal besonders deutlich: Hier hat die Sprachkompetenz auf Mathematikleistungen einen größeren Einfluss als sozioökonomischer Status, Migrationshintergrund oder Mehrsprachigkeit (Prediger & Wessel 2018).

Studien weisen darauf hin, dass die meisten Kinder mit Hörbehinderung bereits im Vorschulalter Schwierigkeiten mit mathematischen Lerninhalten haben (Kritzer, 2009; Pagliaro & Kritzer, 2013). Dies führt aufgrund des Spiralprinzips in der Mathematik dazu, dass diese Kinder auch in der Schule mehr gefährdet sind, Rechenschwierigkeiten zu erwerben (Blatto-Vallee et al. 2007, Marschark et al. 2013, Qi & Mitchell, 2012, Traxler, 2000; Gottardis et al., 2011), die bis ins Erwachsenenalter nur schwer aufgeholt werden können (Bull et al., 2011; Kramer & Grote, 2009). Erklären lässt sich dieser Rückstand bei hörbehinderten Kindern unter anderem über die Sprachkompetenz.

Die Bedeutung der Sprachkompetenz beim Mathematiklernen wird z. B. dann deutlich, wenn Mengen miteinander verglichen werden sollen: Zur Beschreibung werden mehrere Aspekte gleichzeitig und in Abhängigkeit zueinander beschrieben, wie z. B. weniger als, mehr als, genauso viel wie, etc. (Sinner, Ennemoser & Krajewski, 2011). Risiken für Missverständnisse stecken auch in kleinen Worten (v. a. Adverbien und Konjunktionen) wie z. B. „dazu“, „weg“, „davon“, etc., die aufgrund ihrer Kürze eher überhört und übersehen werden als Schlüsselwörter in Sätzen, wobei gerade die kleinen Wörter bedeutungstragend für mathematische Grundvorstellungen sind (Käpnick & Benölken, 2020). Auch Lesefähigkeit, Wortschatz und Weltwissen nehmen Einfluss auf das Mathematikverstehen (Prediger, 2018).

Zu den mathematischen Vorläuferfähigkeiten („pränumerische Fähigkeiten“), die Kinder bereits im Vorschulalter erlernen, gehören Abzählen, Messen, Mengen schätzen und in Relation setzen, einfaches Addieren und Subtrahieren sowie Formen erkennen und benennen (Benz, Peter-Koop & Grüßing, 2015). Diese Kompetenzen werden in der Regel beiläufig und spielerisch in der alltäglichen Kommunikation mit den Eltern erworben, z. B. durch soziale Handlungen wie gemeinsames Zählen, Vergleichen von Mengen etc. (Björklund, 2008). Die häufige Beschäftigung mit mathematischen Aspekten führt zu einer Automatisierung (z. B. durch Abzählverse) und erleichtert es den Kindern später, Fähigkeiten zum mathematischen Problemlösen zu erwerben.

Da bei hörbehinderten Kindern unabhängig von der Kommunikationsmodalität das beiläufige Lernen eingeschränkt sein kann, müssen sie die spielerische Beschäftigung mit Mathematik häufig deutlich bewusster und konzentrierter aufnehmen als hörende Kinder, die Vieles „nebenbei“ über den Gehörsinn mitbekommen (Pospischil 2018).

Die Entwicklungsrückstände der meisten hörbehinderten Kinder im Mathematiklernen betragen laut älteren Studien zwischen zwei bis fünf Jahre gegenüber gleichaltrigen hörenden Kindern (Hine, 1970; Wood et al., 1983). Neuere Studien dokumentieren auch teilweise, dass viele hörbehinderten Kinder trotz des früheren Diagnosezeitpunkts, verbesserter Versorgungsmöglichkeiten und einer zunehmenden Wertschätzung der Gebärdensprache als vollwertige Sprache in bestimmten mathematischen Lernbereichen besondere Herausforderungen haben:

  • Zahlenverständnis (Pagliaro & Kritzer, 2013),
  • Messen, Erfassen von Mengen (Pagliaro & Kritzer, 2013),
  • Bruchrechnen (Mousley & Kurz, 2015; Titus, 1995),
  • Automatisierung von Zahlenreihen (Bull, 2008; Leybaert & Van Cutsem, 2002),
  • Problemlösen (Pagliaro & Kritzer, 2013, Traxler, 2000),
  • Aufgaben zum Zahlenstrahl (Bull et al., 2011),
  • Textaufgaben (Ansell & Pagliaro, 2006; Blatto-Vallee et al., 2007; Hyde et al., 2003; Kelly & Mousley, 2001).

Da bei den zuletzt genannten Textaufgaben neben der sprachlichen auch die schriftliche Modalität hinzukommt, sind Probleme für viele hörbehinderte Kinder naheliegend. Diesen Kindern fällt es bei schriftlichen Textaufgaben schwer, die konkrete Fragestellung der Aufgabe zu identifizieren und das mathematische Problem zu modellieren (Spencer & Marschark, 2010).

Relative Stärken können bei hörbehinderten Kindern und Jugendlichen im Bereich Geometrie beobachtet werden (Pagliaro & Kritzer, 2013; Edwards et al., 2013), was häufig mit den Stärken in der visuellen Wahrnehmung der Kinder in Zusammenhang gebracht wird (Marschark & Knoors, 2012). Außerdem zeigen viele hörbehinderte Kinder annäherende Fähigkeiten bei systematisch-methodischen Rechenaufgaben ohne semantischen bzw. sprachlichen Kontext (Swanwick et al., 2005) und bessere Leistungen in der Raumvorstellung (Zarfaty et al. 2004).

Zunehmend befassen sich Studien mit dem Einfluss der Kommunikationsmodalität auf das Mathematikverstehen. So gibt es einige Studien zu den Mathematikkompetenzen von tauben Kindern tauber Eltern (native signers), die zeigen, dass Gebärdensprache als visuell-gestische Sprache positiven Einfluss auf das Mathematiklernen nehmen kann (z.B. Kritzer, 2009; Werner, 2010; Henner et al., 2021). Zudem finden sich Hinweise darauf, dass native signers bestimmte Aufgabenstellungen anders lösen als hörende, lautsprachlich kommunizierende Kinder, wie z. B. Zahlenstrahlaufgaben und Aufgaben, bei denen verschiedene Aspekte zueinander in Beziehung gesetzt werden (Werner et al. 2019). Gebärdensprachorientierte Kinder machen also mitunter andere Fehler als hörende Kinder, was über die Sprachmodalität erklärt werden kann (Leybaert & van Custem, 2002). Die zukünftige Forschung wird zeigen, wie gebärdensprachliche Ressourcen besser für den Mathematikunterricht genutzt werden können.

Während bei hörenden Kindern Schwierigkeiten in pränumerischen Fähigkeiten wie der Anzahlerfassung (das Erfassen kleinerer Mengen „auf einen Blick“) auf spätere Schwierigkeiten hinweisen können, ist das bei hörbehinderten Kindern unabhängig von der Kommunikationsmodalität nicht der Fall (Schindler et al., 2022). Hörbehinderte Kinder zeigen in diesen Aufgaben sogar deutlich weniger Schwierigkeiten als hörende Kinder, weisen aber trotzdem häufiger Lernrückstände im Mathematiklernen auf. Dies macht andere Erklärungen für Entwicklungsrückstände wahrscheinlicher, wie die soeben genannten Aspekte wie z. B. eingeschränkter Zugang (über Gehör und Sprache) zu spielerischen Mathematikerfahrungen im Alltag, aber auch Qualität der Eltern-Kind-Interaktion und des (vor-)schulischen Angebots (Barbosa, 2014; Kritzer, 2008, 2009; Nunes, 2004).

 

Literatur

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Autor*innen: Schäfer K, Werner V, Hänel-Faulhaber B  (2023)